Viele Betriebsratsmitglieder fragen sich: Was passiert mit meinen Schichtzulagen, wenn ich freigestellt bin und nur noch tagsüber arbeite?
Dabei gilt: Freigestellte Betriebsratsmitglieder sollen wegen ihrer Freistellung weder besser noch schlechter gestellt werden, als wenn sie ihre arbeitsvertragliche Verpflichtung erfüllen. Es gilt das sog. Lohnausfallprinzip.
Der nachfolgende Beitrag bespricht ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28.08.2024 (Az.: 7 AZR 197/23), das eine zentrale Frage im Betriebsverfassungsrecht behandelt: Erhält ein vollständig freigestelltes Betriebsratsmitglied weiterhin Schichtzulagen, Nacht- und Sonntagszuschläge sowie Rufbereitschaftsvergütung, wenn es diese Zuschläge ohne die Freistellung verdient hätte – obwohl es nun faktisch zu regulären Bürozeiten arbeitet?
I. Sachverhalt
Der Kläger ist seit 2013 beim beklagten gemeinnützigen Verein als Notfallsanitäter in Vollzeit beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten beim ASB Hessen (MTV-ASB-H) Anwendung. Seit Juni 2022 ist der Kläger vollständig von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt, um seine Aufgaben als Betriebsratsmitglied zu erfüllen – zuvor war er seit März 2020 zu 80 % freigestellt. Vor der Freistellung arbeitete er ausschließlich im Wechselschichtdienst und erhielt deshalb tarifliche Zuschläge:
- Wechselschichtzulage
- Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit
- Vergütung für Rufbereitschaft
Während seiner Betriebsratstätigkeit arbeitet der Kläger zu Bürozeiten (ca. 8:00 bis 17:00 Uhr). Diese Zeiten erfüllen nicht die tariflichen Voraussetzungen für die genannten Zulagen.
Der Kläger verlangte von seinem Arbeitgeber die tariflichen Zuschläge und Zulagen für die Zeit von Januar 2021 bis September 2022. Wenn er weiter in Schichten gearbeitet hätte, hätte er diese Zulagen bekommen. Der Beklagte zahlte teilweise eine „Zulagenpauschale“, jedoch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.
Die Vorinstanzen (Arbeitsgericht Kassel und LAG Hessen) wiesen die Klage ab. Begründung: Der Kläger habe sich die Zulagen nicht „verdient“, da er die Betriebsratsarbeit zu nicht zuschlagspflichtigen Zeiten ausübe.
Der Kläger legte Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.
II. Entscheidung
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hob das Urteil auf und verwies den Fall zurück an das LAG.
Das BAG stellte klar:
- Es sei nach dem Lohnausfallprinzip (§ 37 Abs. 2 BetrVG) entscheidend, was der Kläger hypothetisch verdient hätte, wenn er keine Betriebsratsarbeit geleistet hätte.
- Nicht entscheidend sei, zu welchen Zeiten er seine Betriebsratstätigkeit tatsächlich ausübt.
- Wechselschichtzulagen und Zuschläge können daher weiterhin zu zahlen sein – trotz fehlender tatsächlicher Schichtarbeit während der Freistellung.
III. Rechtliche Einordnung: Wann Betriebsräte einen Anspruch auf Zulagen haben
1. Freistellung nach § 38 BetrVG
Nach § 38 BetrVG können Betriebsratsmitglieder vollständig oder teilweise ohne konkreten Anlass von der Arbeitspflicht freigestellt werden. Anstelle der Arbeitspflicht tritt dann die Verpflichtung, Betriebsratsaufgaben wahrzunehmen oder hierfür verfügbar zu sein.
Vollständig freigestellte Mitglieder unterliegen dabei nicht mehr dem Weisungsrecht des Arbeitgebers in Bezug auf ihre reguläre Arbeitsleistung. Sie sind aber grundsätzlich verpflichtet, sich während der üblichen betrieblichen Arbeitszeiten im Betrieb bzw. am Sitz des Betriebsrats aufzuhalten und für Betriebsratsaufgaben bereitzustehen (vgl. BAG 10.07.2013 – 7 ABR 22/12).
2. Das Lohnausfallprinzip (§ 37 Abs. 2 BetrVG)
Ein (vollständig freigestelltes) Betriebsratsmitglied darf wegen seiner Betriebsratstätigkeit keinen finanziellen Nachteil haben. Das bedeutet:
- Es ist so zu vergüten, als hätte es gearbeitet.
- Die Vergütung bemisst sich danach, was der Arbeitnehmer hypothetisch ohne die Freistellung verdient hätte.
- Maßgeblich ist nicht, wann das Betriebsratsmitglied faktisch arbeitet (z. B. nur tagsüber), sondern wann es gearbeitet hätte, wenn es nicht freigestellt wäre.
3. Zulagen und Zuschläge gehören zum Gehalt
Schichtzulagen, Nacht- und Sonntagszuschläge sowie Rufbereitschaftsvergütungen zählen zum Arbeitsentgelt im Sinne des § 37 Abs. 2 BetrVG. Nicht berücksichtigt werden hingegen z. B. Aufwendungsersatzleistungen, wie Fahrtkostenerstattungen oder sog. Schmutzzulagen, die Beschäftigte bekommen, wenn ihre Arbeitskleidung durch die Arbeit besonders stark schmutzig wird und deswegen besonders gereinigt werden muss.
Kommt es zu einer Abweichung von der ursprünglichen – insbesondere zulagenrelevanten – Arbeitszeit, z. B. durch Wechsel von der Nacht- in die Tagschicht, wirkt sich das auf etwaige Schichtzulagen aus:
-
Einvernehmlicher Schichtwechsel:
Wird die Arbeitszeit einvernehmlich geändert (z. B. dauerhaft Tag- statt Nachtschicht), entfällt der Anspruch auf Nachtschichtzulagen. In diesem Fall ist die Änderung arbeitsvertraglich veranlasst, nicht durch die Betriebsratstätigkeit (vgl. BAG 18.05.2016 – 7 AZR 401/14).
-
Eigenmächtige Abweichung:
Übt das Mitglied eigenmächtig Betriebsratsarbeit außerhalb der zulagenrelevanten Schichtzeiten aus, bleibt trotzdem die ursprüngliche Arbeitszeit Grundlage für die Entgeltberechnung. Zulagen, die für diese Zeit vorgesehen wären, müssen weitergezahlt werden – selbst dann, wenn tatsächlich keine Schichtarbeit geleistet wurde (BAG 28.08.2024 – 7 AZR 197/23).
Die Vergütung richtet sich also stets danach, was ohne Freistellung gezahlt worden wäre – unabhängig davon, wann die Betriebsratstätigkeit tatsächlich stattgefunden hat.
Auch wenn der Kläger seine Betriebsratstätigkeit zu „normalen Bürozeiten“ erbringt (z. B. 8–17 Uhr), verliert er also nicht automatisch den Anspruch auf Zulagen. Entscheidend ist, dass er vor der Freistellung in Wechselschicht arbeitete – und dies auch weiterhin getan hätte, wenn er nicht freigestellt wäre. Die Verlagerung der Tätigkeit geschah nicht aufgrund einer Vertragsänderung, sondern im Rahmen der typischen Betriebsratstätigkeit.
4. Warum Zulagen keine unzulässige Begünstigung sind (§ 78 S. 2 BetrVG)
Die Zahlung der Zulagen stellt keine unzulässige Begünstigung dar, sondern dient der Vermeidung einer Benachteiligung. Betriebsratsmitglieder dürfen nicht schlechter, aber auch nicht bessergestellt werden – die Anwendung des Lohnausfallprinzips führt in diesem Fall nicht zu einer verbotenen Besserstellung, sondern zu einer zulässigen Gleichstellung. Maßgeblich bleibt nach dem Lohnausfallprinzip stets eine hypothetische Betrachtung: Was hätte das Betriebsratsmitglied ohne Freistellung verdient.
5. Wie frei sind freigestellte Betriebsratsmitglieder bei ihren Arbeitszeiten?
Unklar bleibt, ob ein vollständig freigestelltes Betriebsratsmitglied an die ursprüngliche Arbeitszeit gebunden ist oder selbst über die zeitliche Lage seiner Betriebsratstätigkeit entscheiden darf.
Das BAG hat diese Frage offen gelassen. Nach Auffassung des LAG Hamm (Urt. v. 20.03.2009 – 10 Sa 1407/08) besteht für vollständig freigestellte Mitglieder eine gewisse Zeitsouveränität, da der Arbeitgeber bei vollständiger Freistellung keine Arbeitszeit anordnen kann.
Gleichzeitig stellt § 37 Abs. 3 BetrVG klare Voraussetzungen für Betriebsratstätigkeit außerhalb der regulären Arbeitszeit auf. Eine abschließende Klärung durch die Rechtsprechung steht noch aus.
IV. Fazit – Was Betriebsräte jetzt wissen sollten
- Freigestellte Betriebsratsmitglieder behalten ihren Vergütungsanspruch auf Basis der regulären Arbeitszeit, die ohne Freistellung gegolten hätte.
- Dies gilt auch, wenn sie ihre Betriebsratstätigkeit außerhalb dieser Zeiten ausüben – selbst eigenmächtig. Schichtzulagen dürfen in einem solchen Fall nicht gekürzt werden.
- Solange keine arbeitsvertragliche Änderung der Arbeitszeit erfolgt, ist die ursprüngliche Lage der Arbeitszeit für das Lohnausfallprinzip und die Vergütung weiterhin maßgeblich.
- Eine tatsächliche Abweichung vom Schichtsystem führt nicht automatisch zum Verlust zulagenrelevanter Entgeltbestandteile.