Arbeitgeber:innen greifen zur Überwachung des Betriebsgeländes häufig auf Videokameras zurück. Manche:r Arbeitgeber:in könnte auf den Gedanken kommen, die dabei entstandenen Videoaufnahmen auch zur Kontrolle der Arbeitszeit der Beschäftigten zu verwenden. Doch dürfen sie das? Die zu dieser Frage am 06.07.2022 ergangene Entscheidung des LAG Niedersachsen (8 Sa 1148/20) hat angesichts des BAG-Urteils zur Arbeitszeiterfassung besondere Brisanz und wird das BAG noch weiter beschäftigen.
Was war geschehen?
Der Kläger ist bei der Beklagten im Bereich Gießerei beschäftigt. An den Werkstoren betreibt die Beklagte Videokameras. Durch ein Piktogramm und einen Hinweistext werden die Beschäftigten auf die Videoaufzeichnung hingewiesen sowie darauf, dass diese Aufzeichnungen für 96 Stunden vorgehalten würden. Die Beklagte betreibt außerdem ein Hinweissystem, in dem Beschäftigte anonym Hinweise zu Unregelmäßigkeiten geben können, auch und insbesondere in Bezug auf das Verhalten ihrer Kolleg:innen. Über diesen Weg soll es einen anonymen Hinweis gegeben haben, wonach mehrere Mitarbeitende aus dem Bereich der Gießerei, unter anderen der Kläger, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begangen haben sollen.
Die Beklagte lud den Kläger zu einem Personalgespräch und eröffnete ihm den Vorwurf, er habe an mehreren Tagen seinen Arbeitsplatz unerlaubt vorzeitig verlassen. So soll der Kläger an einem Tag neben seinem unbefugt den Werkausweis eines Kollegen vor das Lesegerät am Werkseingang gehalten und das Gelände noch vor Beginn seiner eigenen Nachtschicht wieder verlassen haben. An zwei Tagen habe er das Werksgelände jeweils „einige Minuten“ sowie an einem weiteren Tag bereits 22 Minuten vor Schichtende verlassen. Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos sowie vorsorglich ordentlich fristgemäß zum nächstmöglichen Termin.
Erfolg in erster und zweiter Instanz
Der Kläger wehrte sich gerichtlich gegen die Kündigungen und trägt vor, die ihm vorgeworfenen Pflichtwidrigkeiten nicht begangen zu haben. Die Videoaufzeichnungen und die Erkenntnisse aus der elektronischen Anwesenheitserfassung unterlägen einem Sachvortrags- und einem Beweisverwertungsverbot. Das Arbeitsgericht gab dieser Klage statt. Dagegen legte die Beklagte nun Berufung ein, allerdings erfolglos.
Das LAG wies die Berufung ab und begründete dies damit, die Kündigungen seien unwirksam, da die behaupteten Pflichtwidrigkeiten des Klägers nicht erwiesen seien und auch kein hinreichend dringender Verdacht für ihre Begehung durch den Kläger bestehe.
Wann wäre die außerordentliche Kündigung gerechtfertigt?
Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
Das war nach Ansicht des LAG jedoch nicht der Fall. Zwar könne das Verhalten eines Arbeitnehmers, der seinem Arbeitgeber wider besseres Wissen und entgegen der tatsächlichen Begebenheiten vorspiegelt, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben, ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB sein. Darunter fielen etwa der vorsätzliche Missbrauch einer Stempeluhr, das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare, ein kollusives Zusammenwirken mit anderen Arbeitnehmern oder das Täuschen durch vorsätzliche Falschangaben gegenüber anderen Arbeitnehmern. Der Arbeitnehmer verletze damit in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber dem Arbeitgeber nach § 241 Abs. 2 BGB. In einer solchen Pflichtverletzung liege ein schwerer Vertrauensbruch, da der Arbeitgeber auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können müsse.
Auch Arbeitszeitbetrug muss bewiesen werden
Der Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe sie willentlich und wissentlich über die Erbringung seiner Arbeitsleistung getäuscht, indem er das Betriebsgelände an einem Tag noch vor Schichtbeginn wieder verlassen habe, sei deshalb an sich geeignet, einen wichtigen Grund zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen.
Der Beklagten oblag es jedoch, die Pflichtverstöße des Klägers zu beweisen, da dieser sie bestritten hatte. Diesen Beweis konnte die Beklagte allerdings nicht erbringen, da sie nach Ansicht des Gerichts weder die Kartenleserdaten noch die Videoaufzeichnungen als Beweis habe einbringen dürfen.
Kein Beweismittel entgegen schützenswertem Vertrauen aufgrund Betriebsvereinbarung
Die Beklagte hatte mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung zur Einführung der elektronischen Anwesenheitserfassung abgeschlossen. Diese Betriebsvereinbarung enthält eine Regelung, wonach eine personenbezogene Auswertung von Daten nur insofern erfolgen solle, als die betrieblichen Vorgesetzten zur Kenntnis nehmen können und sollen, ob einzelne Beschäftigte anwesend sind. Eine über diese Kenntnisnahme hinausgehende personenbezogene Auswertung der Kartenleserdaten dürfe nicht erfolgen. Diese Regelung in der Betriebsvereinbarung gelte unmittelbar und zwingend und solle den betroffenen Arbeitnehmern, wie ihre Auslegung durch das erkennende Gericht ergebe, eigene Rechte einräumen. An diese Regelungen in der Betriebsvereinbarung müsse sich die Beklagte dem Kläger gegenüber selbst dann gebunden halten, wenn der zuständige Betriebsrat der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Erkenntnisse über den Kläger nachträglich zugestimmt haben sollte. Eine rückwirkende Beseitigung der ihm durch die Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechte sei nicht möglich, da der Kläger insoweit Vertrauensschutz genieße.
Auch die Videoaufzeichnungen sowie Aussagen von Zeugen, die diese Aufzeichnungen angesehen und ausgewertet haben, seien nicht verwertbar, da sonst berechtigte Privatheitserwartungen des Klägers verletzt würden. Gegen ihre durch die Hinweise an die Beschäftigten selbst aufgestellte Regel habe die Beklagte vorliegend eklatant verstoßen, da sie bei ihren Untersuchungen auf Aufzeichnungen zurückgegriffen habe, die sämtlich deutlich älter als 96 Stunden gewesen seien.
Wann ist die Verwertung von Videoaufzeichnungen angemessen?
Darüber hinaus greife, so das LAG, ein Beweisverwertungsverbot wegen eines unzulässigen Eingriffs in das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung. Die Auswertung der Videoaufzeichnungen stelle eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten im Sinne des § 26 Abs. 1 BDSG dar. Diese Datenverarbeitung sei jedoch unzulässig, da sie weder für die Durchführung oder Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses noch für die Aufdeckung einer Straftat erforderlich gewesen sei.
Die Videoüberwachung sei schon gar nicht geeignet, einen Arbeitszeitbetrug nachzuweisen. Die Aufzeichnungen der Videokameras würden lediglich das Betreten und Verlassen des Werksgeländes durch die Beschäftigten dokumentieren. Da die Arbeitszeit allerdings erst mit dem Erreichen bzw. Verlassen des tatsächlichen Arbeitsplatzes auf dem weitläufigen Betriebsgelände beginne und ende, lasse die Videoaufzeichnung am Werkstor über Beginn und Ende der Arbeitszeit keinen Aufschluss zu.
Das Mittel der Videoüberwachung sei zur Kontrolle und etwaigen Aufdeckung von Straftaten auch nicht erforderlich, da mildere Mittel zur Verfügung stünden, wie eine Anwesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder technische Einrichtungen am Arbeitsplatz selbst.
Schließlich sei die Videoüberwachung auch nicht das angemessene Mittel. Die Videokameras würden alle Beschäftigten an sämtlichen Eingängen des Betriebes erfassen und Schlüsse zulassen, wer wie gekleidet sei, ob und von wem sie gegebenenfalls begleitet worden seien. Die Schwere dieses Eingriffs stünde daher außer Verhältnis zu dem Gewicht rechtfertigender Gründe. In einer Verwertung dieser Videoüberwachung durch das Gericht läge damit auch ein Grundrechtsverstoß. Die Videoüberwachung greife in das Persönlichkeitsrecht des Klägers ein. Würde eine gerichtliche Verwertung erfolgen, würde dies einen erneuten ungerechtfertigten Grundrechtseingriff darstellen. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Gerichts gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Klägers gebiete es, eine Wiederholung des Grundrechtseingriffs zu unterlassen
Wie geht es weiter?
Die Beklagte hat gegen die Entscheidung Revision eingelegt (Aktenzeichen: 2 AZR 297/22).
Das LAG hatte die Revision zugelassen, da der Rechtsstreit eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung berühre, über die noch nicht höchstrichterlich entschieden worden sei. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat das BAG seit der Neufassung des BDSG im Jahr 2018 noch nicht über derartige Fälle des § 26 Abs. 1 BDSG entschieden. Auch wenn sich die Vorschrift gegenüber der Vorgängerregelung nicht wesentlich geändert habe, sei sie nunmehr im Lichte der Datenschutzgrundverordnung der EU auszulegen. Darüber hinaus betrafen bisherige Entscheidungen des BAG zu dieser Problematik stets Fälle, in denen die Videoaufnahmen zum Nachweis eines Eigentumsdelikts dienten. Für den Fall eines (angeblichen) Arbeitszeitbetruges seien möglicherweise andere Maßstäbe anzulegen.
Besonders interessant erscheint diese Entscheidung vor dem Hintergrund des BAG-Urteils vom 13.12.2007 (2 AZR 537/06). Damals entschied der 2. Senat, dass allein die Verletzung eines Mitbestimmungstatbestandes grundsätzlich nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen könne. Die Argumentation der 8. Kammer des LAG Niedersachsen weicht von diesem Urteil zumindest zum Teil ab. Denn mit der ausdrücklichen Regelung in der Betriebsvereinbarung, dass über die Kenntnisnahme hinaus keine Auswertung personenbezogener Daten erfolgen darf, erkennt das LAG Niedersachsen „berechtigte Privatheitserwartung“ des Betroffenen an. Jene Privatheitserwartung lehnte der gleiche Senat des BAG mit Urteil vom 23.08.2018 (2 AZR 133/18) in Bezug auf die Speicherung von Bildsequenzen einer Videoüberwachung noch ab – damals mit dem plakativen Argument, Datenschutz sei kein Tatenschutz unter Zugrundelegung des § 32 BDSG a.F. Es bleibt deshalb mit Spannung zu erwarten, wie das BAG den Argumenten des LAG Niedersachsen entgegentreten wird.
Die abzuwartende Entscheidung des BAG in dieser Sache erhält zusätzliche Bedeutung im Zusammenspiel mit der jüngst ergangenen Entscheidung des BAG zur Arbeitszeiterfassung (BAG 13.09.2022 – 1 ABR 22/21). Arbeitgeber:innen können ihre Pflicht, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen, auf diese übertragen. Es ist davon auszugehen, dass im Nachgang zum Arbeitszeiterfassungs-Urteil des BAG mehr Arbeitgeber:innen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden. Insoweit dabei die Verwendung von Systemen zunimmt, mit denen Arbeitgeber:innen die korrekte Erfassung der Arbeitszeit durch die Beschäftigten kontrollieren wollen, kommt datenschutzrechtlichen Fragen dabei eine besondere Bedeutung zu.
Der Betriebsrat ist gefragt!
Wie so häufig sollten Betriebsräte die Problematik proaktiv angehen. Die Entscheidung des LAG Niedersachen beweist einmal mehr, dass es sich lohnt, bei der Einführung von Informations- und Kommunikationssystemen von seinem Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG Gebrauch zu nehmen und eine Betriebsvereinbarung abzuschließen. In dieser Betriebsvereinbarung empfiehlt es sich, dem Arbeitgeber Grenzen hinsichtlich der Datenverarbeitung zu setzen.